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Erfindergeist aus Potsdam

An der HPI School of Design Thinking lernen 40 Studenten aus 30 verschiedenen Fachrichtungen erfinderisches Denken. Gemeinsam erschaffen sie neue Produkte und Dienstleistungen.

Lounge Musik. Quadratische Sitzwürfel, die frei im Raum verteilt werden können. Trennwände voller farbiger Post-it-Zettel. Ein Beamer wirft an die zentrale Präsentationstafel psychodelische Muster. Halbvolle Becher mit Kaffee stehen auf einem Regal. Studenten verteilen bunte Comic-Motive über einen Tisch und fotografieren das Ganze. Der Geräuschpegel ist enorm. Es wird geredet, diskutiert, mit Assoziationen um sich geworfen. Lautstark, fröhlich, lebhaft. Eine Atmosphäre, wie man sie vielleicht an einer Eliteschule in Kalifornien vermuten würde. Doch die HPI School of Design Thinking befindet sich nicht im Silicon Valley, sondern auf dem Campus der Universität Potsdam. Jedes Jahr werden hier rund 40 Studenten in Design Thinking ausgebildet. Im erfinderischen Denken. Trotz Wolkendecke und Temperaturen um den Gefrierpunkt knistert es hier vor Gründergeist.

Um Kreativität und Innovation ranken zahlreiche Legenden. Steve Jobs, Gründer und Chef des Apple-Konzerns, erzählt gerne davon, wie er nach dem Abbruch seines Studiums mit Kalligrafiekursen begann. Hier wurde ihm ein Gespür für Klarheit und Schönheit vermittelt, das ihn Jahre später zum spezifischen Apple-Design inspiriert. Doch nicht jeder kann erst einen Kalligrafiekurs besuchen, um eine gute Idee zu haben. Die täglichen Herausforderungen der Arbeitswelt erfordern es immer wieder, kreative Einfälle bewusst zu provozieren. Hier an der HPI School of Design Thinking will man eine Methode gefunden haben, um gemeinsam im Team neue Ideen und damit neue Produkte und Dienstleistungen zu erschaffen.

Ulrich Weinberg, der Direktor der Schule, kommt gerade aus Stanford. Hier hat er mit den Gründern der ersten d.school getroffen. Hasso Plattner, Mitgründer von SAP, holte das Konzept nach Potsdam, wo es an das Hasso Plattner Institut (HPI) angegliedert ist. Anders als in Stanford richtet sich das Programm der Schule nicht nur an Ingenieure, sondern steht Studenten aller Fachrichtungen offen.

Den Jetlag spürt Weinberg immer noch in den Knochen. Ein schwarzes, langärmeliges T-Shirt unter dem eine Halskette hervorlugt, eine Brille mit schmalen Gestell, die Haare kahl rasiert. Auf seinem Konferenztisch, einem Stehtisch mit Rollen – der wie alles hier an der Schule hoch mobil ist – liegt ein schwarzes MacBook. Daneben eine Telefonanlage, von der Weinberg allerdings nicht viel hält. „Wir sind seit 2007 hier und ich weiß immer noch nicht, wie das Ding funktioniert“, sagt der Professor.

So etwas stört ihn. Ein Produkt, das vielleicht technisch durchdacht ist, aber Menschen de facto nichts bringt. Weil es an den Bedürfnissen vorbei entwickelt wurde. Seine Studenten sollen es anders machen. Heute ist der letzte Tag eines sechswöchigen Projektes. In drei Klassen – in der School of Design Thinking „Classes“ genannt, schließlich ist die Unterrichtssprache Englisch – wurden die Studenten aufgeteilt. Es geht um Medien, Nachhaltigkeit und Bildung. Jede Klasse ist noch einmal in verschiedene Projekte untergliedert. Der 25jährige Informatiker und Masterstudent für IT Systems Engineering Toni Grütze wirkt etwas angestrengt. Sein Team hat in den vergangenen sechs Wochen zwei Mal die Projektaufgabenstellung verändert. Das kommt gar nicht mal so selten vor. Schließlich ist es das Ziel der Studenten, nicht zu aller erst Lösungen für Probleme zu finden, sondern die richtige Fragestellung. Die „How might we“- Frage nennt Professor Weinberg diese Frage aller Fragen. „Wie könnten wir…“

Weinbergs Studenten arbeiten in Projekten, die von einem Tag bis zu zwölf Wochen reichen. Jedes Mal durchlaufen sie denselben Prozess. Verstehen, Beobachten, einen Standpunkt definieren, Ideen sammeln und Erfinden, Prototypen herstellen und auf eine mögliche Umsetzung etwa ein Business-Modell hin testen. Während die Analyse von Märkten zur ständigen Arbeit von Unternehmen gehört, kommt die Definition eines Standpunktes nach Weinbergs Meinung oft zu kurz. Wem soll das neue Produkt etwas nützen? Wie lebt, denkt und arbeitet der Mensch, an den es gerichtet ist?

Fragen, die von Unternehmen häufig so nicht mehr gestellt werden. Ihnen geht es viel öfter um die eigene Perspektive: Wie verbessere ich die Vertriebskette, wie spare ich Kosten. Die Gefahr besteht, dass dadurch die Bedürfnisse des Kunden aus den Augen verloren werden.

Nach intensiven Recherchen über den Markt und der Definition eines Standpunktes der sich immer auch in einer konkreten Fragestellung ausdrückt, gehen die Studenten ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Erfinden nach. Die Phase ist erstaunlich kurz. In rund einer halben Stunde bringen sie während eines Brainstormings alle Ideen auf den Punkt, die sich während der Vorarbeit in ihnen aufgestaut haben. Die Regeln hierfür sind mit großen Buchstaben entlang der Decke des großen zentralen Arbeitsraumes aufgelistet. „Nur einer spricht“, steht dort. „Quantität ist wichtig“. Es sind rund ein Dutzend Regeln, die jeder Student verinnerlichen muss. Für die Erarbeitung von zumindest in der Theorie funktionsfähigen Prototypen stehen den Studenten hochwertige Computer und Software zur Verfügung aber auch Bastelmaterialien für erste Modelle.

Toni Grütze findet diese Form der Herangehensweise beflügelnd. Während seines Informatikstudiums beschäftigte er sich bislang vor allem mit Data-Mining. „In meinem Studium bin ich immer mit sehr konkreten Problemen konfrontiert, bei denen lediglich Details ausgearbeitet werden müssen“, sagt der Ingenieur. Dort beschäftigt er sich zwar mit komplexen Sachverhalten, allerdings begrenzt auf die Sicht des technisch machbaren. Hier an der School of Design Thinking hingegen hat er gelernt, freier und offener zu denken. Sein Wissen mit dem der anderen Studenten aus den rund 30 verschiedenen Fachrichtungen, die hier versammelt sind, zu vernetzen.

Schon die Ergebnisse der ersten Abschluss-Klasse sind beachtlich. So überlegt etwa der Handelskonzern Metro derzeit, ein Onlineshop-Konzept aus der Ideen-Schmiede umzusetzen und prüft die Einrichtung von Abholstationen für Lebensmittel nach einem Modell der Potsdamer. Gut möglich, dass in Zukunft häufiger Produkte das Label der HPI School of Design Thinking tragen werden.

Über den Autor Henning Zander

Henning Zander ist Wirtschaftsjournalist und externer Datenschutzbeauftragter (TÜV). Er arbeitet u.a. für FOCUS-Business, Legal Tribune Online und das Anwaltsblatt. Er ist Autor des Buches Startup für Einsteiger

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